< Previousvon Sorgenfalten auf der Stirn zugestimmt. Durch das Ranklotzen im väterlichen Betrieb hatte ich, taktisch klug, zusätzlich für gutes Wetter gesorgt. Meine Eltern ahnten zwar, dass bei derartigen Anlässen gerne grandios gebechert wurde, aber ich glaube, ihr Stand- punkt lautete in etwa: So lange sie sich betrinken, kommen sie wenigstens nicht mit Drogen in Kontakt. Mir war absolut klar, auf was diese Hüttenwoche hinauslaufen würde: Alibiwanderungen, jede Menge Trinkspiele, endloses Gerede über Fußball und Masturbati- onstechniken. Insgesamt zu wenig für mein heißes Herz, wie ich ein paar Tage zuvor entschieden hatte, und deshalb glaubte der Vikar auch, dass ich, leider, leider, mit überraschend aufgetretenem Fieber Zuhause im Bett liegen würde. Der einzige, der Bescheid wusste, war mein bester Freund Wolfgang. Ihm fiel die Aufgabe zu, dem Vikar kurz vor der Abfahrt die Hiobsbotschaft meiner abrupt zu Tage getretenen Unpässlichkeit zu überbringen. Eigentlich hätte ich Wolfgang gern dabei gehabt auf der Tour, denn ein bisschen Schiss hatte ich schon, das Ganze solo durchzuziehen, wie ich mir eingestehen musste. Einen halben Nachmittag lang hatte ich ihn bekniet, die Hütte und die Landjugend ebenfalls sausen zu lassen und mitzukommen, aber als mir klar wurde, dass er gar nicht schnallte, worum es ging, gab ich es auf. „Was für eine Never Ending-Tour? Wovon quatschst du eigentlich?“, fragte er verständnislos, „das wird doch stark auf der Hütte, wart`s ab.“ Ich erklärte ihm, dass niemand anderer als Bob Dylan die Idee entwickelt habe, nie mehr still zu sitzen, für immer auf Tour zu gehen und seine Songs immer in einem anderen Gewand zu spielen. Und dass ich das für die Idee des Jahrhunderts halten würde. Wolfgang dagegen meinte, ich sei bescheuert. Kein Wunder, er hörte auch nie den Wind pfeifen, wenn ich Dylan auflegte. Und wenn ich ihm davon erzählt hätte, hätte er höchstens mephistophelisch gefragt, ob Winde überhaupt etwas spüren, wenn sie an scharfen Canyonkanten vorbeischleifen. „Heißt das, du willst nie wieder zurückkommen? Und wovon willst du leben?“, fragte er. „Du kannst doch nicht mal richtig Gitarre spielen.“ Der Highway, also die L 13 von Weißenburg nach Eichstätt, war wie ausgestorben. Kein Auto weit und breit zu sehen. Logisch, viel zu früh, dachte ich, und zog fröstelnd das Päckchen Tabak, das ich am Abend zuvor gekauft hatte, aus meiner Jackentasche. Ich war bisher nicht übermäßig scharf auf das Zeug gewesen, aber ich dachte mir, dass es zu einer Tour einfach dazugehört. Mühsam drehte ich mir eine Zigarette, mit dünnem Hals und stöckeligem Bein und einem Blähbauch in der Mitte, aber sie blieb kalt. Denn so sehr ich auch in meinen Taschen und in meinem Rucksack wühlte, ich fand nichts zum Anzünden. An Feuerzeug oder Streichhölzer hatte ich einfach nicht gedacht in der ganzen Hektik. Es gab offenbar noch viel zu lernen, aber nicht zuletzt deshalb war ich ja hier. Ich hätte es Wolfgang wirklich gern erklärt, dass die Never Ending-Tour so etwas wie eine Metapher war, für… naja, fürs Loslassen, Davondriften, vielleicht fürs Selbstfinden, wenn es so etwas überhaupt gab. Ich hatte keinen Plan, ich brauchte auch keinen Plan. Vielleicht, wahrscheinlich, würde ich nach sechs oder spätestens sieben Tagen wieder Zuhause sein und niemand, vor allem nicht meine Eltern, würden jemals meine perfekt getarnte Aktion durchschauen. Vielleicht - nicht ganz so wahrscheinlich, aber möglich - würde ich schon morgen meiner Traumfrau begegnen, meiner Sad Eyed Lady Of The Lowlands, und dann, who knows? Auf jeden Fall musste es nach Süden gehen, ich wollte unbedingt das Meer sehen – zum allerersten Mal in meinem Leben. Vage hatte ich das Bild vor Augen, wie ich am Strand saß und Gitarre spielte. Als unwiderruflich fest stand, dass mein erster Rauchversuch auf der Tour zum Scheitern verurteilt war, ließ sich immer noch weit und breit kein Auto blicken. Also befreite ich meine 150 Mark teure Westerngitarre, die ich letztes Jahr zu Weihnachten bekommen hatte, aus ihrer Umhüllung und fing an zu klimpern. Die Saiten waren natürlich verzogen durch die nächtliche Kühle, und ich kämpfte verbis- sen, um sie wieder in eine ordentliche Stimmung zu bringen. Mein damaliges Repertoire umfasste exakt drei Songs, die mir ein Freund gezeigt hatte: ´House Of The Rising Sun`, ´Five Hundred Miles` und natürlich ´Blowin` In The Wind`. Ich hatte absolut keinen Schim- mer, dass man mit den in diesen Stücken enthaltenen wenigen Akkorden so gut wie jeden Song, der die Welt jemals zum Weinen, zum Schwelgen oder zum Tanzen gebracht hat, nachspielen kann. Aber ich glaube, ich stand auch deswegen zu der Zeit so sehr auf Dylan, weil er mir das Gefühl gab, dass es jemandem wie mir möglich war, seine Songs zu lernen, denn bei aller mystischen Schwerelosigkeit und oft kaum durchschaubaren Relevanz, die sie verströmten, schienen sie auch ganz banal meine Nähe zu suchen und mir ins Ohr zu flüstern: Sing mich! Spiel mich! Ich war gerade dabei, den Flüssigkeitsfaktor meiner Version von ´Blowin` In The Wind` zu steigern, als tatsächlich ein Auto um die Ecke röhrte, und ich schnell aufspringen musste, um noch rechtzeitig den Daumen in die Luft halten zu können. Aber dann war mein zweiter Ride auf dieser Tour perfekt. Tags zuvor beim Start hatte ich es nicht allzu weit geschafft. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit durfte ich bei einem Vertreter für Staubsauger einsteigen, der bis in die nächste Stadt, nach Rothenstein, fuhr, um dort in einem Gasthaus zu übernachten. Für mich war in Rothenstein ebenfalls Endstation; es ging einfach nichts mehr, aber das war nicht weiter schlimm. Meine Hauptsorge war gewesen, mich unerkannt aus meinem Heimatort zu verabschieden; hätte mich womöglich irgendeiner der zahllosen Bekannten unserer Familie trampend am Straßenrand gesehen, wäre mein ganzer schöner Plan bereits im Ansatz gescheitert. Aber so konnte ich mich - halb euphorisiert von meinem Mut, halb zweifelnd, ob die Idee wirklich so viel taugte, wie ich die Tage davor gemeint hatte – ein, zwei Kilometer außerhalb von Rothenstein in die Büsche schlagen, mich in meinen Schlafsack wickeln und mich Dylans Songs überlassen. Jetzt, wo es weiterging - Richtung Süden, das stand fest - gewann erst einmal die Euphorie wieder die Oberhand. Der Typ, der mich in seinen Ford Escort einsteigen ließ, nannte sich Mike und fuhr fast bis nach Ingolstadt. Ein Fuchsschwanz hing an seinem Schlüsselbund und klatschte in rhythmischen Wellenbewegungen gegen sein beständig im Takt hin und her wackelndes Knie; er hörte die ganze Zeit über ultralaut hammerharten Heavy Metal, naja, für die damalige Zeit hammerhart, vermutlich Venom und Ähnliches. Wir sprachen nicht viel. Einmal brüllte ich ihn an: „Gute Mucke!“ Seinen Mundbewegungen nach zu urteilen, antwortete er etwas in der Art wie „Yeah, Mann.“ Als er mich in Gaimersheim absetzte, hatte ich erst mal keine Lust mehr auf Musik, dafür mächtig Kohldampf. Ich investierte einen Teil meines Tourbudgets, das die restlichen hundertdreißig Mark meines Ferienjoblohns umfasste, in eine Currywurst und fettgetränkte Pommes an einer Frittenbude, dann stellte ich mich wieder an den Straßenrand. Aber wo war das Meer? Stunden später war ich ihm keinen Kilometer näher gekommen. Es war zum Verzweifeln. Sie fuhren alle an mir vorbei, als wäre ich kein Mensch, sondern ein Papp- 020schild, auf dem in großen, roten Buchstaben ´Bitte ignoriert mich` steht. Ich kannte diese deprimierenden Tage, jeder Tramper kannte sie, es war die Zeit der Mitleidlosen! Egal ob krawattenbewehrte Bürohengste, sonnenbrillentragende Junglehrer, bärtige Schornstein- feger, hundespazierenfahrende ältere Damen oder auf einem Lkw-Sitz thronende sogenannte Helden der Landstraße – sie alle blickten stur geradeaus und traten grausam aufs Gaspedal, als sie meine Höhe erreichten. Ausgerechnet ein Pfarrer war es, der mich erlöste, gerade als ich total entnervt den Bahnhof suchen wollte, um den Ort meiner Niederlage mit einem Zug, einem klassischen Symbol der Spießbürgerlichkeit, zu verlassen. Der Pfarrer, ein protestantischer Geistlicher, war nett, doch es war klar, dass er es darauf anlegte, mich auszuhorchen. Ich beantwortete höflich seine Fragen, log aber natürlich das Blaue vom Himmel herunter. Ich erzählte in einem gestelzten Hochdeutsch, ich käme aus Kiel und sei unterwegs zu meiner Tante in Füssen. Leider habe man mir im Zug Geld und Fahrkarte gestohlen, und so müsse ich es nun per Autostopp schaffen. Ich fragte ihn, ob er in Ingolstadt ein Jugendzentrum oder etwas in der Art kennen würde, ich wolle mich gerne einmal umsehen. Insgeheim quälte mich so langsam die Ungewissheit, wo ich die Nacht verbringen sollte; ich verspürte keine allzu große Lust auf ein weiteres kühles, inkommodes Lager am Straßenrand. Der Priester erzählte von dem Jugendhaus in seinem Stadtteil, wo wirklich sehr gute Arbeit geleistet werde, wenn auch nicht unbedingt im Namen des Herrn, aber die IIJ, die Initiativgruppe Ingolstädter Jugendarbeit, der die Stadt das Haus zur Verfügung stelle, arbeite durchaus schon mal bei bestimmten Anlässen mit seiner Kirchen- gemeinde zusammen. Als er mich schließlich um drei oder vier Uhr nachmittags vor dem Jugendhaus absetzte, meinte er freundlich, wenn ich es heute nicht mehr bis nach Füssen schaffen sollte, könne ich auch bei ihm im Pfarrhaus übernachten, das sei überhaupt kein Problem. Es war kein Palast, so viel war mir schon klar, als ich die Treppen hochging, aber es war um Längen besser als unser kleines Jugendräum- chen in Weißenburg. Die Fassade war mit bunten Graffiti bemalt, aus denen eine Riesenfaust herausstach, die gleichsam mit der Kraft der Jugend die Wand zu durchstoßen schien. Über dem Eingang stand in geschwungenen Lettern ´House Of Life` gepinselt. Drinnen war es weitläufig und gemütlich zugleich. Als ich reinkam, ließ gerade Cat Stevens den ´Peace Train` ausrollen, aber schon als ich mir an der Theke eine Cola kaufte, knallte ein Police-Song aus den Boxen. Die Mischung gefiel mir; ich stellte meinen Rucksack und die Gitarre ab, schlenderte durch die beiden großen Aufenthaltsräume und musterte neugierig die wenigen in den alten Sofas hängenden Typen, die mich noch viel neugieriger musterten. ´Why?` fragte das an der Wand hängende Plakat mit dem sterbenden, im Schatten die Hände hochwerfenden Soldaten. Auf dem Tisch darunter lag ein Stapel Zeitschriften, geheftet auf DinA 5-Größe. ´Spot(t)light` stand als Titel drauf, und darunter etwas kleiner ´Die IIJ beleuchtet Ingolstadt und die Welt`. Als Titelbild war eine, wie ich fand, ziemlich witzige Ka- rikatur von Helmut Kohl mit Gärtnerschürze und Harke zu sehen, versehen mit dem Schriftzug ´Birne erntet die Früchte seiner Lügen`. Daneben wartete ein Pappkässchen, und ein Papierhütchen klärte mich darüber auf, dass das Stück für fünfzig Pfennig zu haben war. Dann kam Chris, und der Drang, schnell nach Süden zu gelangen, ließ auf einen Schlag spürbar nach. Sie trug ein Sommerkleid und die blonden Locken fielen ihr über die Augen. Schon nach wenigen Minuten war mir die Geste vertraut, wie sie mit beiden Händen die Haare nach hinten strich; von ihren Armen baumelten dabei Myriaden von Leder- und Stoffbändchen. „Deine Gitarre?“, fragte sie, den Kopf reckend. Ich nickte. „Spielst du mir was vor?“ Schon war sie hinter der Theke und drehte den drei Polizisten den Saft ab. Im Hintergrund wurde gemurrt. „Ich bin noch nicht so gut im Spielen“, sagte ich vorsichtig und ein bisschen verlegen. „Macht doch nichts. Kannst du ´Ruby Tuesday`?“ Ich schüttelte den Kopf. „Egal. Spiel was anderes. Live ist immer besser als Konserve, stimmt`s?“ Sie ließ mir keine Chance, zog mich an der Hand, bis wir in irgendeiner Ecke saßen. Ich überlegte fieberhaft, welchen Song ich wählen sollte und entschied mich dann völlig überraschend für ´Blowin` In The Wind`, das ich in einer erbarmungs- würdigen Stammelversion und mit etlichen Verspielern herunterholperte. „Gute Stimme, ganz ähnlich wie Dylan“, meinte Chris, als ich schwitzend geendet hatte. Gnädigerweise warf sofort jemand die Anlage wieder an, damit ´The Clash` das, was von meiner Performance noch in der Luft liegen mochte, endgültig zerstören konnten. Sie war sechzehn, ging auf die Realschule, wollte alles wissen, glaubte aber nichts, was man ihr auf die Schnelle mit manipulativem Gestus unterzujubeln versuchte. „Die Oberfläche ist nur zum Luftholen nötig, zu mehr taugt sie nicht“, sagte sie, „alles, was wirklich interessant ist, liegt darunter, findest du nicht?“ Sie sagte mir auf den Kopf zu, dass ich ohne die Erlaubnis meiner Eltern unterwegs war, und meinte, das finde sie mutig. „Aber warum machst du das? Was suchst du?“ „Vielleicht wollte ich dich treffen“, sagte ich, und fürchtete gleichzeitig, mein Mut wäre zu zügellos und mein Glück bald überstrapaziert. Aber sie lachte. „Gute Antwort.“ Chris fragte, ob ich Geld hätte, und wir gingen in den nächsten Supermarkt, um einzukaufen. Ich sponserte drei Zwiebeln, zehn Dosen Tomatensoße, fünf Päckchen Spaghetti, 200 Gramm geriebenen Käse, zwei Flaschen Rotwein und zwei Flaschen Cola. All das schleppten wir zurück zum Jugendzentrum, und Chris erzählte mir, dass sie dort öfters kochen würde. Sie hänge überhaupt häufig dort rum, man treffe immer nette Leute, und wenn man keinen Bock zum Reden habe, finde man jederzeit ein ruhiges Plätzchen. Zuhause bei ihr sei es nicht so doll. Wenn ihr Vater besoffen sei, was in letzter Zeit praktisch täglich vorkomme, sei man dort nicht wirklich sicher. „Er schlägt gern zu, weißt du, und wenn er zuschlägt, schlägt er gleich richtig zu“, erklärte sie mir in erstaunlich sachlichem Ton, „ich glaube, er braucht Opfer, damit er sich besser fühlt.“ Ich schluckte und sagte nichts, fühlte mich peinlich berührt. Hatte ich wirklich gedacht, ich hätte Probleme mit meinen Eltern? In der kleinen Küche des Jugendzentrums, die jeder benutzen durfte, sofern hinterher aufgeräumt wurde, verteilten wir die Aufgaben zwischen uns gemäß der Menge der jeweils angesammelten Kochkenntnisse. Chris übernahm die Soße, während ich mich um die Nu- deln kümmerte. Zwar überwachte ich äußerst gewissenhaft das Kochen des Wassers, vergaß auch das Salzen nicht, hatte aber dennoch genügend Muße, sie bei ihrem routiniert wirkenden Jonglieren mit Töpfen, Messern und Gewürzen zu beobachten. Nebenher nippte ich ab und zu an einer Mischung aus Rotwein und Cola, aber ganz vorsichtig. Ich wollte nicht betrunken, nicht einmal beschwipst sein, ich wollte nur weiter diese federweiche Wolke spüren, auf der ich völlig unvermittelt gelandet war. Das Tourleben war phantastisch, fand ich. 021Wir quatschten über Musik. Ihr Lieblingssong war ´Ruby Tuesday` von den Stones. „Immer wenn ich das höre, habe ich das Gefühl, sie singen von mir“, sagte Chris und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie streckte mir einen Löffel mit Tomatensoße entgegen und ich berührte sie ganz leicht am Unterarm. „Willst du kosten?“ Natürlich wollte ich. Der aus der Küche strömende Geruch hatte inzwischen eine Horde von Leuten angelockt, die um den Mammuttopf herumlungerten, Teller und Besteck suchten und sich Wein einschenkten. Das sei immer so, meinte Chris lächelnd, und heute würde es locker für alle reichen. Mir war´s recht, ich fand sie alle sympathisch, die Marios und Arnos und Stefans, mit denen wir an dem großen Tisch im Aufenthaltsraum saßen. Das Essen war unbeschreiblich. Meine Mutter, zweifellos eine Spitzenköchin, hatte meiner Ansicht nach niemals auch nur etwas entfernt so Köstliches zustande gebracht. Es war schlicht das Beste, was ich je in meinem Leben gegessen hatte. Später, als es dämmerte, gingen wir raus zu der Grillstelle im Hinterhof des Gebäudes, an den sich eine kleine, sich selbst überlassene Grünfläche mit ein paar vereinzelten Bäumen anschloss, die zur Donau hinunterführte. Mario oder Stefan entzündete ein Feuer und ich stimmte, inzwischen selbstbewusster geworden, ´House Of The Rising Sun` an. Dann erschien Gregg auf der Bildfläche, was einerseits gut war, weil wir auf dem Rücken der Klänge, die er meiner Gitarre entlockte, stundenlang durch die weite Prärie der Rock- und Pop- Songs reiten konnten. Andererseits war er letztlich schuld daran, dass meine Tour ein jähes Ende fand. Aber spielen konnte er! Ich blickte ehrfürchtig auf seine Finger, die wie von Zauberhand gelenkt über die Saiten meiner Gitarre husch- ten. Noch nie war sie in der Art behandelt worden, bereits nach zwei, drei Songs stufte ich ihn als Gitarrengott ein. Gregg war älter als wir anderen, vielleicht achtzehn oder neunzehn, hieß eigentlich Gregor, und ließ sich Gregg – und zwar das amerikanische Gregg mit dem röhrendem R und dem langgezogenen Ä - nennen, weil er Gregg Allman, den Gitarristen der Allman Brothers anbetete, wie er mir erklärte, während er ein kleines Plastikpäckchen aus der Tasche zog, das meiner Mutmaßung nach Gras enthalten konnte. Tatsächlich fing er an, einen Joint zu bauen, und ich spürte mein Herz klopfen. Die Wunder dieses Tages schienen kein Ende zu nehmen. „Gregg Allman hatte auf der Gitarre mindestens so viel drauf wie Jimi Hendrix, und ´Live At Fillmore East` von den Allman Brothers ist die beste Platte der Welt“, sagte er ehrfürchtig, während er den Joint anzündete. Ich hatte null Plan, wer die Allman Brothers waren, und als ich ihn fragte, ob er auch was von Dylan spielen könne, blickte er mich mitleidig an, stimmte dann aber ein Stück nach dem anderen an: ´It Ain`t Me, Babe`, ´It`s all Over Now, Baby Blue`, ´Just Like A Woman`, das ganze Zeug. Ich nahm nur einen oder zwei Züge von dem die Runde machenden Joint, aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass ich besser sang als jemals zuvor, besser als jeder andere an diesem irre schönen, irre warmen Lagerfeuer. Dann wurde ich für eine kurze Weile ziemlich traurig, weil Gregg ´Sad Eyed Lady Of The Lowlands` nicht spielen konnte, ja den Song nicht einmal kannte. Die Nacht senkte sich über uns und die Stunden vergingen wie im Flug. Es passierte gleichzeitig alles und nichts. Ich übte mich während des Singens im Zigarettendrehen, und irgendwann streckte mir Gregg sein Päckchen Gras entgegen und sagte: „Nutz` deine Energie für was Besseres.“ Tatsächlich gelang es mir mit der Hilfe von Chris, die lautstark von Gregg ´Ruby Tuesday` forderte, einen krummen Joint zu drehen, aber anstatt ihn anzuzünden, steckte ich ihn erst mal oben in die Tasche meiner Latzhose zu meinem Tabak. Ich hatte Wichtigeres zu tun: Ich setzte mich neben Gregg und laberte so lange auf ihn ein, bis er mir Akkord für Akkord zeigte, wie man Chris` Lieblingssong in den Griff bekam. Offenbar gelangweilt von dieser mühsamen Unterrichtseinheit ging Gregg mehr und mehr zu Fin- gerpickingorgien über; genial gespielt, aber nicht mehr wirklich massentauglich, und als jemand aus dem Park kam und sagte, der alte Tarrach sei gerade mit seinem Hund vorbeigelaufen und er werde todsicher wieder die Bullen rufen, fing unser Grüppchen an, sich zu zerstreuen. Auch Chris und ich ließen in stillem Einverständnis den mit geschlossenen Augen wild improvisierenden Gregg zurück; sie führte mich in den Park, dem Gemurmel der Donau entgegen. Ich hatte das Gefühl, dass sich hinter uns ein großer, grüner Vorhang aus Pflanzen und Büschen schloss. „Komm, ich zeige dir die Niemand-Zone“, sagte sie. „Die Lowlands“, murmelte ich und sah ihr tief in die Augen, versuchte zu ergründen, ob sie traurig blickten. „Du bist die Lady der Lowlands.“ „Ich bin Ruby Tuesday, das habe ich dir doch gesagt.“ Sie lehnte sich gegen einen Baum und zog mich zu sich her. Ich hatte schon einmal ein Mädchen geküsst, Alice, aber es war mehr eine mechanische Übung gewesen, eine Art Testlauf, bei dem nicht die Gefühle im Vordergrund standen, sondern die Frage, wie man denn das Ganze am besten anstellen könne, ohne sich zu verschlucken, außer Puste zu geraten oder sich sonst irgendwie lächerlich zu machen. Es war unter der Prämisse geschehen, intensiv und ziemlich ernsthaft an einer Gebrauchsanleitung zu arbeiten. Mit Chris war es komplett anders. Unsere Lippen fanden sich, als wären sie nur für den einen Zweck gemacht worden, sich zusammenzuschließen, unsere Zungen tanzten in übernatür- lichem Gleichklang, wir schmiegten uns aneinander wie die Blätter einer Knospe, die sich im Mondlicht zusammenfaltet. Es war, als wären wir von Glut umschlossen und würden trotzdem leben. Das Einzige, was mich nach einer gewissen Zeit störte, war dieses grelle Licht, das sich von rechts in unsere Zweisamkeit drängte. Ich blinzelte und kniff die Augen zusammen, als der Strahl einer Taschenlampe meine Pupillen zu versengen drohte. „Öha, do san jo noamol zwoa“, sagte jemand. Ein junger Polizist, sicher nicht viel älter als Gregg, hatte die Grenze überschritten und die Niemand-Zone betreten. Er schien sich nicht im Klaren darüber zu sein, dass er dazu eigentlich keine Berechtigung besaß. Die Lowlands waren für Leute wie mich und Chris geschaffen worden, nicht für Uniformträger. Schon gar nicht für schlecht er- zogene, die impertinent genug waren, wahrhaft Liebenden eine Taschenlampe als protziges Symbol der Macht unter die erröteten Nasen zu halten. Chris warf ihm auch sofort seine Indiskretion vor, aber er reagierte nur mit einem einzigen Wort: „Mitkemma.“ Das Lagerfeuer war fast heruntergebrannt, aber die Scheinwerfer eines Streifenwagens erhellten die Szenerie, in deren Mittel- punkt gerade ein zweiter Polizist, deutlich älter als unser Bewacher, mit kaum wahrnehmbaren, dünnen Haarsträhnen auf dem Schädel, das Päckchen Gras vor Greggs Augen baumeln ließ und ihm eine Predigt hielt. „Immer mit der Ruhe, Kojak“, hörte ich Gregg sagen, und ich bewunderte ihn für die Gleichmütigkeit, mit der er die Situation hinnahm. Ich dagegen war ziemlich nervös, vor allem, weil ich mich, als der Alte das Gras schüttelte wie ein Vogel den Wurm in seinem Schnabel, auf unangenehme Weise daran erinnert fühlte, dass ein frisch gebauter Joint in meiner Latzhose steckte. Es dauerte nicht lange, dann hatten ihn Kojak und 022sein Deputy entdeckt, denn ich musste sämtliche Taschen leeren und allzu viele Ablenkungsmanöver hatte ich nicht in meinem Repertoire. „Der kommt a mit auf d`Wache, gell?“, fragte der Deputy eifrig. Er meinte mich. „Klar“, sagte Kojak knapp und stierte auf meinen Ausweis, „der ist ja nicht mal volljährig.“ „Und s`Madl?“ „Soll machen, dass sie schleunigst nach Hause kommt!“ Chris klammerte sich an mich und Gregg, fing an zu protestieren: „Hey, ich bleibe bei denen. Ich lass` die beiden nicht allein.“ Kojak ignorierte Chris komplett und fing an, Gregg in die Polizeikutsche zu verfrachten. „Geh` hoam, Kloane“, sagte der Deputy zu ihr und packte mich am Arm. Chris schien fassungslos. Ich war definitiv fassungslos. Meine Gedanken jagten hin und her. Ich konnte es nicht glauben, dass die beiden Bullen wegen dieses kleinen Joints so einen Aufstand machten, noch weniger konnte ich glauben, in was ich da hineingerasselt war. In alles Mögliche hatte ich mich vor Beginn meiner Tour hineingeträumt, aber nicht ins Gefängnis. Mir war verdammt flau. Aber dann sah ich über die Schulter hinweg zu Chris; eine Träne lief ihr über die Wange, dann noch eine, und plötzlich war mir alles andere egal. Ich entwand mich dem Griff des Deputys und fing an, ´This Land Is Your Land` zu singen. Es war einfach das erste, was mir einfiel, als ich in meinem Hirn fieberhaft nach einem Protestsong kramte. Gregg, der bereits im Streifenwagen saß, stimmte sofort mit ein, und er konnte den Text natürlich besser als ich. Trotzdem: Als ich Chris in die Augen sah und ihren stummen, leidenden, traurigen Blick genoss, kam es mir vor, als würde ich auf einer Bühne stehen und von meinem Publikum, von meinen Fans umjubelt werden. Ich sang lauter - „this land is your land, this land is my land“ - obwohl mir der Deputy sagte, ich solle das Maul halten, und als er mich grober als notwendig auf die Rückbank drückte, fühlte ich mich, als wäre ich Bob Dylan. Ein paar Töne, ein paar Verse lang war ich es vielleicht auch. Am zweiten Morgen meiner Never Ending-Tour fror ich zwar nicht so sehr wie am ersten, aber in dieser Zelle auf dem Polizeirevier in Ingolstadt war es trotzdem um Welten ungemütlicher als in dem Straßengraben bei Rothenstein. Gregg pennte noch. Ich lag in mei- nem Schlafsack auf einer Betonpritsche und ärgerte mich ein bisschen. Warum musste ich ausgerechnet ´This Land Is Your Land` anstimmen? Über Nacht war mir in meiner Schlaflosigkeit klarer und klarer geworden, dass der Song überhaupt nicht von Dylan war, sondern von Woody Guthrie, seinem großen Vorbild. Okay, in der Hektik konnte man schon mal danebengreifen, aber wieso hatte ich nicht einfach ´Blowin` In The Wind` gesungen oder wenigstens ´The Times They Are A-Changing`? Das Problem verlor drastisch an Relevanz, als sie mich aus der Zelle holten und in einen Raum brachten, in dem Kojak meinem Vater gegenübersaß. Er sah müde aus, blickte durch mich hindurch und sagte kein Wort. Kojak hatte in der Nacht noch ein Protokoll getippt, das ich unterschreiben musste. Meinen Rucksack hatte er aus dem Jugendzentrum holen lassen. Insofern waren wir schnell reisefertig. „Sie werden dann Post von der Staatsanwaltschaft bekommen“, sagte Kojak, im Türrahmen stehend, noch. Mein Vater nickte nur. Als wir im Auto saßen, fragte ich meinen Vater, ob wir im Jugendzentrum vorbeifahren könnten, um meine Gitarre zu holen. Er ant- wortete nicht. Er sagte auf der ganzen Fahrt nichts. Er sprach die folgenden vier Wochen kein Wort mit mir. Meine Mutter übernahm den Rest des Strafprogramms. Die ersten beiden Tage nach meiner Rückkehr badete sie mich in den Tränen ihrer Enttäuschung. Da- nach verbiss sie sich in ihre Aufgabe als Strafgefangenenaufseherin und ließ mich für den Rest der Ferien keine Sekunde mehr aus den Augen. Das Taschengeld wurde für zwei Monate gestrichen. Ich wurde dazu verdonnert, im Lager Inventur zu machen – ohne Bezahlung natürlich -, und so sortierte und katalogisierte ich völlig sinnlos mitten im Jahr Tausende von Tuben, Flaschen und Eimern, gefüllt mit Farben, Lacken, Grundierungen, Legierungen und Beizmitteln, ganz zu schweigen von flachen, breiten, kurzen und langen Pinseln, Nocken, Wellen und Rollern aus Ross- oder Naturhaar, mit Holz- oder Kunststoffgriffen. Danach stand für mich fest, dass ich niemals den Betrieb meines Vaters übernehmen würde. In der ersten Zeit nach dem Tourabbruch hörte ich oft ´Ruby Tuesday`, und der Song riet mir dazu, es bei der Erinnerung zu belassen. Als nächstes Album kaufte ich mir doch nicht Dylans ´Blood On The Tracks`, sondern ´Live At Fillmore East` von den Allman Brothers, und stellte zweierlei fest: Es war tatsächlich eine Hammerscheibe, Gregg Allman allerdings war der Keyboarder der Band, der Gitarrero war sein älterer Bruder Duanne. Der Ingolstädter Gregg blieb trotzdem mein gitarristisches Vorbild, mit dem Ergebnis, dass ich mittlerweile tatsächlich ein paar Songs mehr drauf habe als damals. Und meine zweite Gitarre nannte ich… genau: Chris. 023 Peter Schwendele ist Autor von Kurzgeschichten und Erzählungen, die in Literatur- zeitschriften und Anthologien in Deutschland, Österreich und der Schweiz veröffentlicht werden. Im März 2018 ist sein erster Roman, der Krimi „Verkaufte Erleuchtung“, erschienen. Geboren wurde er 1965 in Munderkingen. Nach Abitur in Ulm und Zivildienst bei Ravensburg studierte er in Freiburg im Breisgau Politik, Geschichte und Soziologie. Seine Brötchen verdient er als Journalist im südbadischen Schopfheim. © Peter Schwendele024 Bruno Haas www.bruno-haas.com Alemannenstraße 4b 79689 Maulburg T: +49 (7622) 672 81 88 Malerei-Kultur | Bruno Haas Originalbilder, Wandmalerei, Ausstellung in Maulburg «Beratung»GUTE BILDER IM RAUM Jeden Tag eine Freude UNDERGROUND Galerie Frei Raum für Kunst www.underground-galerie.de Christine Frei Eimeldinger Weg 16 79576 Weil am Rhein-Haltingen T: +49 (7621) 161 26 72 Privat Büro Empfang Klinik + Pflegeheime Hotel + Gasthaus Wartezonen Arztpraxen Andere Räume „Das Schöne und das Gute fördern“ Fotokultur | Christine Frei Fotos: Rolf Frei 025026 Foto: Justus Ammann, Maulburg; www.echt-ideenleben.de Täglich Brot Handwerks-Kultur | Bäckerei Bender027 Bäckerei Bender Helmuth Bender Wallstraße 15 D-79650 Schopfheim T: +49 (7622) 3479 Vielleicht sind handwerklich gebackenes Brot und Brezeln bald tatsächlich Weltkulturerbe, wenn Backshops und Billigheimer weiter auf der Siegerstraße bleiben. Sieg oder Niederlage haben Helmuth Bender nie wirklich interessiert, sondern er hat zusam- men mit seiner Frau ganz einfach immer das erlernte Handwerk mit Leib und Seele ausgeübt. Dieses Jahr feiert er sein 40-jähriges Meisterjubiläum. Was er weiter machen wird? Herrliches Brot und Brötchen backen – und seine Stammkundschaft in Lörrach und Schopfheim mit feinem Backwerk verwöhnen. Weltkulturerbe?028 Foto: Fotostudio M, Michaela Geng , Binzgen Genuss.Apotheke Raimar Pilz www.genuss-apotheke.de Schönaugasse 11 79713 Bad Säckingen T: +49 (7761) 9 333 767 Öffnungszeiten: Di – Sa 18.30 – 23.30 Uhr Küche bis 20.30 Uhr Restaurant bis 23.30 Uhr Dining Room Event Location Wine Trade Handcraft Genuss-Kultur | Genuss.Apotheke Michelin 1 Stern Gault Millau 16 P Feinschmecker 3 FFoto: ML3 Schreinerei Maik Lenke www.mldrei.de Bibelisgasse 3/1 79400 Kandern T: +49 (7626) 973 83 63 Holz-Kultur | ML3 Schreinerei Lust auf Qualität? Seit 2014 stehen wir im Bereich Möbel und Küchen für krea- tive und hochwertige Einzelstücke, die wir auch gerne mit Markenherstellern kombinieren und verbauen. Gerne, nein, am liebsten entwerfen wir nach Ihren Wünschen – für Ihre Lust am Schönen. Auch Fenster und Haustüren in allen Materialien realisieren wir für Sie in bester Qualität. Wir freuen uns auf Sie. … aus Lust am Schönen 029Next >